Diskursthema Bevölkerung

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Diskursthema Bevölkerung
Diskursive Ereignisse
Diskursthemen Antifeminismus
Diskursthema:
Bevölkerung

Unter Bevölkerungspolitik ist eine Politik zu verstehen, die die Einwohnerzahl ("quantitative Bevölkerungspolitik") oder die Bevölkerungsstruktur ("qualitative Bevölkerungspolitik") der im Staatsgebiet lebenden Bevölkerung beeinflussen will. Bestimmte Argumentationsmuster greifen auf vermeintliche bevölkerungspolitische Notwendigkeiten oder Naturgesetze zurück, um feministische Forderungen zurückzudrängen. Nach Michel Foucault ist Bevölkerungspolitik als Bio-Macht Teil der Regierungsform ("Gouvernementalität") des modernen Nationalstaats. Die Bio-Macht verknüpft als "Macht über das Leben" Sexual- und Familienpolitik mit anderen Formen der Bevölkerungspolitik.


Geschichtliche Entwicklung der Bevölkerungspolitik

Bevölkerungspolitik und Antifeminismus im deutschen Kaiserreich

Das Argument, die Frauenbewegung würde der nationalen Bevölkerungsentwicklung schaden, ist über einhundert Jahre alt. Die Frauenbewegung geriet während des Ersten Weltkrieges in die Defensive. Ihr wurde von Bevölkerungspolitkern und Rassenhygienikern vorgeworfen, sie werte die Berufstätigkeit der Frauen höher als deren Mutterschaft.[1]

1915 wurde unter Vorsitz von Julius Wolf die Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik gegründet. Ursache für den Geburtenrückgang sei nach Wolf die „Rationalisierung des Sexuallebens“ und damit die Sozialdemokratie und die Frauenbewegung. An der Gründungsveranstaltung nahmen der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungsentwicklung nahmen auch dezidierte Antifeministen wie Karl Friedrich Ludwig von Behr-Pinnow teil.[2]

"Untergang des Abendlandes" - Demografischer Alarmismus in der Weimarer Republik

Im Gründungsjahr der Weimarer Republik, 1918, gab Oswald Spengler das Buch "Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte" heraus. Der Titel sei nach Gideon Botsch/ Christoph Kopke nicht nur "paradigmatisch für den kulturpessimistischen Alarmismus" der Weimarer Republik, sondern bis heute für einen Teil "der extremen Rechten, der darüber hinaus weit in die Gesellschaft ausstrahlt"[3]

Gedeon Botsch und Christoph Kopke machten darauf aufmerkam, dass Oswald Spengler in der Frauenemanzipation eine Ursache für den "Selbstmord der weißen Rasse" sah.[4] So formulierte Spengler in seiner 1933 herausgegebenen Schrift Jahre der Entscheidung: "Das Weib von Rasse will nicht »Gefährtin« oder »Geliebte« sein, sondern Mutter, und nicht die Mutter eines Kindes als Spielzeug und Zeitvertreib, sondern vieler: Im Stolz auf den Kinderreichtum, im Gefühl, daß Unfruchtbarkeit der härteste Fluch ist, der ein Weib und durch sie das Geschlecht treffen kann, redet der Instinkt von starken Rassen [...] Aber der Verfall der weißen Familie, der unentrinnbare Ausdruck großstädtischen Daseins, greift heute um sich und verzehrt die »Rasse« der Nationen. Der Sinn von Mann und Weib geht verloren, der Wille zur Dauer. Man lebt nur noch für sich selbst, nicht für die Zukunft von Geschlechtern. Die Nation als Gesellschaft, ursprünglich das organische Geflecht von Familien, droht sich von der Stadt her in eine Summe privater Atome aufzulösen, deren jedes aus seinem und dem fremden Leben die größtmögliche Menge von Vergnügen – panem et circenses – ziehen will. Die Frauenemanzipation der Ibsenzeit will nicht die Freiheit vom Mann, sondern vom Kinde, von der Kinderlast, und die gleichzeitige Männeremanzipation die von den Pflichten für Familie, Volk und Staat. Die gesamte liberal-sozialistische Problemliteratur bewegt sich um diesen Selbstmord der weißen Rasse."[5]

Nationalsozialistische Bevölkerungspolitik

Die Geschlechterpolitik leitete sich im Nationalsozialismus direkt aus der Bevölkerungspolitik' ab. Dies zeigt sich in der Zuschreibung der sogenannten "Mutterrolle". Frauen wurde für das Gebären von vielen Kindern ein Orden, das sogenannte Mutterkreuz verliehen. Symptomatisch für die nationalsozialistische Einbindung von Frauen in die Bevölkerungspolitik ist der Band „Reden an die deutsche Frau“ aus dem Jahr 1934. Hier stellt Adolf Hitler ein Zitat aus seiner Rede an die NS-Frauenschaft voran, in der es heißt: „Was der Mann bringt im Ringen seines Volkes, bringt die Frau an Opfern im Ringen um die Erhaltung dieses Volkes - “ (Hitler 1934: 2)

Allerdings war die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik nicht nur pro-natalistisch, sondern auch anti-natalistisch, es handelte sich nicht um eine rein quantitativ ausgerichtete Bevölkerungspolitik, sondern vor allem um eine qualitativ ausgerichtete Bevölkerungspolitik. Die 'Qualität' der Bevölkerung sollte mit der Rassenhygiene verbessert werden.

Bevölkerungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg

Franz-Josef Wuermeling und das erste Bundesfamilienministerium

In der Bundesrepublik Deutschland gab es im ersten Kabinett noch kein Familienministerium, sondern nur eine informelle "Kampfgruppe für die Familie", die vom zukünftigen Familienminister Franz-Josef Wuermeling angeführt wurde. Wuermeling sah in der Familienpolitik vor allem auch Bevölkerungspolitik: "Millionen innerlich gesunder Familien mit rechtschaffen erzogenen Kindern sind als Sicherung gegen die kinderreichen Völker des Ostens mindestens so wichtig wie alle militärischen Sicherungen"[6] Wuermeling warnte vor den "farbigen Völkern Asiens" und prognostizierte, dass die Weltbevölkerung im Jahre 2000 nur noch zu einem Fünftel aus Weißen bestehen werde.[7] Einfluss auf das Familienministerium hatten die neugegründeten Insititute Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft und Deutsche Akademie für Bevölkerungswissenschaft, die zum Großteil aus ehemaligen Rassenhygieniker*innen bestanden.[8] Beispielsweise war Gabriele Wülker, die bereits preisgekrönte Forschungsaufgaben im Nationalsozialismus zusammen mit ihrem Ehemann, dem Bevölkerungsbiologen Hans Wülker übernommen hatte, Gründungsmitglied der Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft und zugleich erste Staatsekretärin im Bundesfamilienministerium unter Wuermeling. Entsprechend hieß es in Wuermelings Denkschrift zum Familienlastenausgelich: "Nach den Erkenntnissen der Bevölkerungswissenschaft wird der zahlenmäßige Bestand der Elterngeneration erst dann im gleichen Umfang ersetzt, wenn jede überhaupt fruchtbare Ehe drei Kinder hat."[9]

Wuermeling verlangte, der Staat solle die Familien „schützen“. Laut Irene Langer verlangte er „eine Erschwernis der Scheidung, Behinderung der Geburtenkontrolle“, er wolle „massive Anreize dafür geben, daß Hausfrauen nicht berufstätig werden, oder sogar die Berufstätigkeit von Ehefrauen erschweren.“ Die Schwangerschaftsunterbrechung solle weitgehend unter Strafe stehen. Auch das Scheidungsrecht wurde unter Wuermeling 1961 erschwert.[10] Wuermeling forderte zu Beginn seiner Amtszeit, die zivile Trauung aufzuheben und stattdessen unter kirchliches Recht zu stellen, womit zu dem Zeitpunkt eine Scheidung unmöglich gemacht worden wäre.[11] Die Ehe müsse geschützt werden: „Wenn schon unsere Auffassung von der Unauflöslichkeit der Ehe keine gesetzliche Anerkennung mehr finden kann, so wollen doch alles versuchen, um die Auflösung der wichtigsten Ordnungszelle des Staates, der Ehe und Familie, auf das geringstmögliche Maß zu beschränken.“ [12]

Die Produktion eugenischer Diskurse wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem von der us-amerikanische Stiftung Pioneer Fund betrieben. Der Pioneer Fund finanziert unter anderem das in den 1950er Jahren entstandene Magazin Mankind Quarterly, welches u.a. vom NS-Rassenhygieniker und späteren Dekan der Münsteraner Uni-Klinik, Otmar von Verschuer, mit herausgegeben wurde.

Obschon 1952 von Hans Harmsen die Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft und die Deutsche Akademie für Bevölkerungswissenschaft initiiert wurden[13], wurde die Familienpolitik in Deutschland aufgrund der nationalsozialistischen Erfahrungen zunächst von der Bevölkerungspolitik abgekoppelt. In der extremen Rechten spielte die Bevölkerungspolitik dennoch eine wichtige Rolle: Jürgen Rieger "berechnete" bspw. 1975, dass bis 2005 der deutsche "Volksbestand" auf 37 Millionen geschrumpft sein werde.[14]

Bevölkerungspolitische Diskurse im 21. Jahrhundert

Auch im 21. Jahrhundert werden bevölkerungspolitische Themen im Diskurs des Antifeminismus bedient. Insbesondere die Partei Alternative für Deutschland fordert aufgrund "der derzeitigen demografischen Lage einen Paradigmenwechsel hin zu einer Bevölkerungspolitik in Gestalt einer aktivierenden Familienpolitik"[15]

Die Positionen der AfD im Einzelnen:

  • Über allem steht der Satz: "Der Erhalt des eigenen Staatsvolks ist vorrangige Aufgabe der Politik und jeder Regierung." Die AfD möchte eine kinderfreundliche Politik und den Erhalt des Staatsvolks als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen.
  • Die Rhetorik der Neuen Rechten ist gekennzeichnet durch positiv formulierte Forderungen, die aber über die negative inhaltliche Bedeutung und die Konsequenzen nicht hinwegtäuschen können.
  • "Kinder brauchen Vater und Mutter: Allein erziehen ist kein Idealfall": Alleinerziehende werden als "Einelternfamilien" versucht zu diskreditieren, in dem sie als nicht "normal", "fortschrittlich" oder "gar erstrebenswert" verunglimpft werden. Die AfD will die staatliche finanzielle Unterstützung für alleinerziehende Mütter streichen, und liefert gleich die Begründung dazu: der alleinerziehende Elternteil würde dem anderen Elternteil aus Erziehungsverantwortung und Erziehungsleistung herausdrängen wollen. Auf dem Bundesparteitag 2017 in Köln votierten die Delegierten für einen Antrag (WP49) zum Thema Alleinerziehung, dessen Begründung diese Sätze enthielt: "Allein erziehen ist jedoch keine „Erfolgsstory“, sondern in erster Linie das Resultat des Scheiterns eines Lebensentwurfs."[16][17]
  • "Väter stärken": Die AfD suggeriert, als hätten Väter heute keine Rechte. Dahinter steht aber "Männerrechte stärken", was schon im ersten Satz deutlich wird: "Einer gezielten Politik für Männer und Väter, hat sich bislang keine Partei angenommen".
  • "Kinder willkommen heißen": Die AfD ist gegen Abtreibung, aber nicht aus vordergründig "christlichen", sondern aus bevölkerungspolitischen Beweggründen. Die AfD forderte eine Meldepflicht [18] für Abtreibende. Im Wahlprogramm findet sich dann der Satz "Wir lehnen alle Bestrebungen ab, die Tötung Ungeborener zu einem Menschenrecht zu erklären." Im Tarabella-Bericht von 2013 heißt es, dass "die sexuellen und reproduktiven Rechte grundlegende Menschenrechte sind“, und dass Frauen „durch den einfachen Zugang zu Empfängnisverhütung und Abtreibung die Kontrolle über ihre sexuellen und reproduktiven Rechte haben müssen". Das Europäische Parlament hat am 10.03.2015 diesen Bericht verabschiedet.
  • Gegen Abtreibung, für eine Meldepflicht und damit für eine Stigmatisierung Abtreibender, und gegen die Kontrolle der Frauen über ihre sexuellen und reproduktiven Rechte sind ein Rückschritt, um erkämpfte Frauenrechte wieder zurückzudrängen.
  • "Für ein klares Familienbild - Gender-Ideologie ist verfassungsfeindlich": Die AfD vermengt das biologische und das soziale Geschlecht, um ein "klassisches Familienbild" zu propagieren, das es so nur in der Wunschvorstellung gibt. Sie ignoriert bzw. negiert höchstricherterliche Rechtsprechung vom 10.02.2013, nach der Adoptionsrechte Homosexueller gestärkt wurden. In einer Presseerklärung von Renate Künast hieß es: "Familie ist da, wo Kinder sind", "wo Erwachsene Verantwortung übernehmen - egal ob Hetero oder Homo".[19]

Bevölkerungspolitische Narrative im Antifeminismus

Konkret lassen sich folgende antifeministisch-bevölkerungspolitische Narrative herausarbeiten:

Bevölkerungspolitische Netzwerke

Literatur

  • Ute Planert (1998): Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Vanderhoeck & Ruprecht

Einzelnachweise

  1. Ute Planert (1998): Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Vanderhoeck & Ruprecht, S.211
  2. Ute Planert (1998): Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Vanderhoeck & Ruprecht, S.211
  3. Gideon Botsch/ Christoph Kopke (2018): Der »Volkstod«. Zur Kontinuität einer extrem rechten Paranoia, in: Juliane Lang/ Ulrich Peters (Hrsg.) (2018): Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt, Hamburg, S. 67
  4. vgl. Gideon Botsch/ Christoph Kopke (2018): S. 68f.
  5. Oswald Spengler (1933): Jahre der Entscheidung, Kapitel 20
  6. F.-J. Wuermeling: Das muß geschehen!, in: Kirchen-Zeitung (Köln), 6.12.1953 (zit. n. Ingrid Langer: Die Mohrinnen hatten ihre Schuldigkeit getan. Staatlich-moralische Aufrüstung der Familien, in: Dieter Bänsch 1985 (Hrsg.): Die fünfziger Jahre. Beiträge zur Politik und Kultur, Tübingen 108-130, S.121)
  7. Franz-Josef Wuermeling: Bevölkerungspolitik und Geburtenbeschränkung, Sendung des Bayerischen Rundfunks im August 1958, Manuskript, s. 3, BAK, B 136/6134, zit. n. Christiane Kuller (2004): Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München S. 156
  8. Christiane Kuller (2004): Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München S. 156
  9. Der Familienlastenausgleich. Erwägungen zur gesetzgeberischen Verwirklichung. Eine Denkschrift des Bundesministeriums für Familienfragen, Bonn, November 1955, S. 5, BAK, B 136/6134, S. 24, (zit. n. Christiane Kuller (2004): Familienpolitik im föderativen Sozialstaat: Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München S. 156f.)
  10. F.-J. Wuermeling: Das muß geschehen!, in: Kirchen-Zeitung (Köln), 6.12.1953 (zit. n. Ingrid Langer: Die Mohrinnen hatten ihre Schuldigkeit getan. Staatlich-moralische Aufrüstung der Familien, in: Dieter Bänsch 1985 (Hrsg.): Die fünfziger Jahre. Beiträge zur Politik und Kultur, Tübingen 108-130, S.121)
  11. F.-J. Wuermeling: Das muß geschehen!, in: Kirchen-Zeitung (Köln), 6.12.1953 (zit. n. Ingrid Langer: Die Mohrinnen hatten ihre Schuldigkeit getan. Staatlich-moralische Aufrüstung der Familien, in: Dieter Bänsch 1985 (Hrsg.): Die fünfziger Jahre. Beiträge zur Politik und Kultur, Tübingen 108-130, S.121)
  12. F.-J. Wuermeling: Das muß geschehen!, in: Kirchen-Zeitung (Köln), 6.12.1953 (zit. n. Ingrid Langer: Die Mohrinnen hatten ihre Schuldigkeit getan. Staatlich-moralische Aufrüstung der Familien, in: Dieter Bänsch 1985 (Hrsg.): Die fünfziger Jahre. Beiträge zur Politik und Kultur, Tübingen 108-130, S.121f.)
  13. Michael Sontheimer: Lange braune Schatten, in: Spiegel-Online vom 24.10.2006
  14. Der Spiegel vom 24.03.1975: "Die Kinder wollen keine Kinder mehr"
  15. Alternative für Deutschland: "Willkommenskultur für Kinder: Familienförderung und Bevölkerungsentwicklung", in: Internetpräsenz der Alternative für Deutschland: Famiie / Bevölkerung
  16. Zeit.de vom 23.04.2017: Das AfD-Programm zur Bundestagswahl
  17. Antragsbuch der AfD zum BPT 2017
  18. Antragsbuch der AfD zum BPT 2017:Antrag WP60
  19. Handelsblatt vom 19.02.2013: Bundesverfassungsgericht Karlsruhe stärkt Adoptionsrecht für Homosexuelle